Wahrheiten

Subjektive Objektivität 
...or what about the truth


„Und tschüss!“, brüllte Lilo.
Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich Lilos und Lenis Blicke vor der Wohnungstüre, bevor diese krachend ins Schloss fiel und Lilo die Treppe hinabrannte.
„Danke! Macht rein gar nichts. Ich wollte zwar rein, aber ich habe ja ´nen Schlüssel. Wohne ja schließlich auch hier“, grunzte Leni ihr hinterher.
In der Wohnung vernahm sie hinter der selten geschlossenen Küchentüre eine hitzige Diskussion. 
Leni lauschte kurz und polterte hinein.
„Habe ich euch eigentlich schon mal gesagt, dass dieser „Ommer“ seinen Namen nicht verdient hat? Habe ihm deshalb einfach mal das „S“ geklaut.“ Leni zog eine Grimasse.
Mathias sah sie belustigt an.
„Liebchen, wie schaust du denn aus? Also, wenn du das noch Frisur nennst, dann darfst du mich ab jetzt Peter Pan nennen.“ 
Mathias liefen die Lachtränen herunter. Auch Carola schaute grinsend zu Leni hinüber.
„Ja, ja, lacht ihr ruhig. Dieser Mist Regen hat mich auf den letzten einhundert Metern dermaßen erwischt. Es ist echt nicht mehr witzig, was dieses Jahr abgeht. Nicht ein einziges Mal war ich im Strandbad, unglaublich… aber sagt mal, was ist denn mit Lilo los?“ Leni stellte die Einkaufstüten auf den Tisch und zog den triefend nassen Mantel aus.
„Sie hat die Stelle nicht bekommen. Das ist los.“
Mathias nickte zustimmend.
„Ach, Mist! Echt jetzt? Warum das denn nicht? Was hat sie denn erzählt?“
„Also, um ehrlich zu sein, hat sie eigentlich nur ziemlich deftig herumgebrüllt. Der genaue Wortlaut kommt mir nicht über meine zarten Lippen.“
„Mensch Mathias, das kann man doch wohl nur zu gut verstehen! Sie hatte sich solche Hoffnungen gemacht und jetzt das.“
„Was, das?“, Leni setzte sich und pustete sich die nassen Strähnen aus ihrem Gesicht.
„Dieser Neidhammel aus der Buchhaltung, dieser Lörcher, der hat den Posten bekommen“, beantwortete Mathias Lenis Frage.
„Um Himmels willen! Ausgerechnet der. Den konnte Lilo doch noch nie leiden. Der spricht nicht mit jedem und hält sich aus allem raus. Aalglatter Typ.“ 
„Jepp, der soll ganz schön eingebildet sein.“ Carola stand auf und holte eine neue Flasche Pinot Gris aus dem Kühlschrank.
„Möchtest du auch was?“
„Nee, lass mal, ich brauche gleich was Heißes.“
„Ich auch!“, flötete Mathias.
„Ist klar! Was ist denn eigentlich mit diesem Gerome?“
„Ach geh´ mir weg! Voll der Griff ins Klo. Nee, danke! So verzweifelt bin ich auch noch nicht.“ Mathias machte eine Handbewegung, die keiner weiteren Erläuterung bedurfte.
„Jetzt nochmal zu Lilo zurück!“ Leni schaute zu Carola hinüber. „Ich verstehe ja, dass sie sauer ist, aber das sah ja wohl eher danach aus, als sei sie das momentan eher auf euch oder irre ich mich?“
„Ja, du hast wohl Recht. Ich denke, sie fühlte sich einfach angegriffen.“
„Du hast aber auch direkt gesagt: `War doch klar. Du bist zu alt für diesen Job´. Herzlichen Glückwunsch Herr Nolte! Echt gelungen“, kommentierte Carola seine Aussage. 
„Ach du liebes Lieschen, Mathias!“, entfuhr es Leni. „Das ist mal wieder so typisch für dich. Kannst du dir bitte ein wenig Sensibilität kaufen gehen!“
„Stopp! Jetzt hört aber auf, auf mir herumzuhacken! Ich habe doch nur die Wahrheit gesagt.“
„Entschuldige bitte, aber das ist deine Wahrheit. Ich hingegen behaupte, das liegt daran, dass sie für diese Position einfach nicht die Ausbildung hat, Punkt.“
„Quark mit Soße. Jetzt mach dir bitte mal nix vor Caro. Irgendwann ist der Zug abgefahren. Weißt du was? Jetzt setze ich extra für dich noch einen oben drauf… und sie ist eine Frau.“
Carola schnappte nach Luft. 
„Jetzt hör du aber mal auf! Ich bin ja nun auch schon neunundvierzig und habe erst vor drei Jahren die Restaurant Leitung übernommen. Das hat mit dem Alter mal gar nichts zu tun. Nein, sie kann das einfach nicht.“
„Haaaaaallllllo, geht´s euch noch gut?“, schaltete sich Leni jetzt vehement dazwischen. „Kein Wunder, dass Lilo das Weite gesucht hat. Eure Diskussion geht selbst mir ein bisschen zu weit. Habt ihr das vorhin auch so gebracht?“

Für einen kurzen Moment hielt Schweigen in dieser, doch sehr wohl gelittenen, WG Küche Einzug.
„Atmet mal ´ne Runde durch! Ich gehe mich kurz umziehen.“

Leni verschwand in ihrem Zimmer, das gleich links neben der Küche lag. Die Vier wohnten mittlerweile seit knapp fünf Jahren zusammen. Jeder hatte sein eigenes Reich in dieser schönen und großzügigen Altbauwohnung mitten in der Kölner Altstadt. Sie hatten sich für diese Wohnung entschieden, obwohl nicht alle zuvor festgelegten Kriterien erfüllt wurden, wegen der beiden geräumigen Bäder und nicht zuletzt wegen dieser traumhaften Küche. Besagte Küche maß aufgerundet knapp dreißig Quadratmeter, war zudem bereits voll ausgestattet und in der Mitte des Ganzen thronte ein Tisch für mindestens acht Personen. Hier trafen sie sich beinahe allabendlich, um sich auszutauschen und den Tag Revue passieren zu lassen. So wie heute, eben.

Als Leni geföhnt und mit trockenen Klamotten wieder in der Küche erschien, redete immer noch keiner.
„Ich mache mir jetzt ´nen Tee. Will einer von euch auch einen?“
„Nee, lass mal, ich bleibe lieber beim Wein.“ Carola hob das Weinglas empor.
„In vino veritas, me too.“
„Okay. Sagt mal, wisst ihr wohin Lilo wollte?“
„Nein, nicht wirklich. Sie sprang dermaßen abrupt auf, aber ich denke fast, sie ist joggen. Macht sie ja eigentlich immer, wenn sie Luft rauslassen will“, räumte Mathias ein.
„Wisst ihr, ´ne Bekannte hatte mir mal erzählt, dass sie eine Online-Bewerbung abgeschickt hatte und ganze dreißig Minuten später bereits eine Absage dagewesen sei. Kann mir das einer erklären? Das funktioniert doch nur, wenn die Verantwortlichen interne Ausschlusskriterien angelegt haben, womit sie diverse Kandidaten und -innen direkt aussieben können. Also, so ganz Unrecht hat Mathias vielleicht gar nicht, Carola.“
„Kann ja sein, aber mir ist das echt zu flach…“
„Denkst du mir nicht? Ich bin mir trotzdem sicher, was das mit dem Alter angeht. Wird sie aber eh nie ganz rauskriegen. Da sagt doch keiner die Wahrheit. Bist du zu dick oder ist deine Nase zu schief, heißt es, der Lebenslauf passe nicht auf die ausgeschriebene Stelle oder irgendwie so ähnlich. Das ist doch so“, fiel ihr Mathias ins Wort.

Der Regen hatte aufgehört.
Erst als sie völlig aus der Puste war, setzte sich Lilo auf das Stück Mauer am Rheinufer, das einen prachtvollen Blick in Richtung Dom zuließ.
„Ich bin so eine dumme Pute!“, schnaubte sie und vor lauter Wut lief ihr ein Tränchen über ihre Wange. 
„Wie konnte ich mich bloß auf diesen Scheiß einlassen? War doch klar, dass der Schuss nach hinten losgehen musste.“
Lilo senkte den Kopf und bemühte sich wieder ruhiger zu atmen. Eine Zeitlang saß sie völlig regungslos dort. Die schwer beladenen Containerschiffe und Ausflugsdampfer konnten ihren Blick, wie sie es sonst zu tun vermochten, nicht auf sich ziehen. 
Es verging eine ganze Weile, bis schließlich ein paar Sonnenstrahlen, zwischen den triefend vor sich hinziehenden Wolken, die Oberhand gewannen. Die Wärme dieser wenigen Strahlen reichte aus, um wieder Leben in Lilos resigniertes Denken zu streicheln. Ein breites Grinsen wich ihrem Unmut und schließlich lachte Lilo so unvermittelt und laut los, dass eine Frau samt dem an ihr hängenden Pudel vor Schreck einen Sprung zur Seite machte. 
„Oh, Entschuldigung“, prustete Lilo, sprang auf und rannte erneut los.
 
Weiter draußen, dort wo sich eine klare Linie zwischen arm und reich nur allzu deutlich abzeichnete und die Häuser immer größer wurden, dort hielt man sich mit emotionalen Schieflagen nicht lange auf. Zumindest nicht nach außen hin. Hier hatte alles perfekt zu sein. Das Leben, die Ehe, die Arbeit. 
Der Garten eines dieser Häuser glich einer Parkanlage. Geschmückt mit allem was Pomp und Prunk hergaben. Die zahlreichen Gäste aus Industrie und Wirtschaft plauderten unverfänglich heiter miteinander und hier und da gab es sogar das eine oder andere aufrichtige Lächeln. 
„Herr Dr. Flippens, ich grüße Sie. Wie geht es Ihnen?“
„Herr Dr. Meinhard… lange nicht gesehen. Es geht mir wunderbar. Gerade erst bin ich aus dem Urlaub zurück. Karibik Kreuzfahrt, traumhaft, kann ich Ihnen wärmstens empfehlen.“
„Das hört sich in der Tat verlockend an. Ah, dort kommt meine Frau. Danny, Liebes, schau mal! Herr Dr. Flippens. Du kennst ihn noch aus Wien, letztes Jahr.“
„Gnädigste.“ Flippens ergriff die Hand der Dame und deutete elegant einen Handkuss an.
„Ja, natürlich erinnere ich mich. Sehr erfreut“, antwortete sie mit einem süffisanten Unterton in der Stimme.
„Herr Dr. Flippens kommt gerade von einer Karibik Kreuzfahrt zurück und kann diese sehr empfehlen. Wäre das nicht auch etwas für uns, Schatz?“ Meinhard schaute seiner Gattin direkt in die Augen.
„Auf jeden Fall, mein Herz. Das wäre sicherlich sehr zuträglich.“ Sie hielt seinem Blick unumwunden stand.
„Ich sehe gerade Professor Dr. Kleinert dort drüben. Sie entschuldigen mich, wir sehen uns bestimmt gleich beim Dinner. Nicht wahr?“ Flippens grinste innerlich. Er wusste genau, wer in dieser Beziehung das Geld verwaltete.
„Das werden wir definitiv. Immer wieder ein Höhepunkt des ganzen Jahres, dieses Festessen“, erwiderte Meinhard und verbeugte sich leicht.
Flippens war gerade weit genug fort, als Meinhard sich erneut seiner Frau zuwandte.
„Diesen Lackaffen habe ich gefressen. Immer höher, schneller, weiter, grauenhaft. Dem trieft der Schleim aus allen Poren.“
„So, so. Da bist du natürlich von ganz anderem Format. Du hast es sicherlich nicht nötig zu prahlen, um zu bekommen, was du willst… nicht wahr Schatz?“ Sie schaute ihn verächtlich an und ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter.

In der Küche war es mittlerweile zu warm geworden, fand Leni. Ob der drei erhitzen Gemüter wegen oder weil ihr die Kälte des Regens endlich aus den Knochen gewichen war. Sie stand auf und öffnete das Fenster einen Spalt weit.
„Im Grunde genommen“, sagte sie, „Ist es doch völlig egal warum, wieso und weshalb Lilo den Job nicht bekam. Sie tut mir einfach voll leid.“
„Leni, das geht uns doch genauso, aber ich brenne schon darauf herauszufinden, weshalb dieser arrogante Fatzke von Lörcher den Job bekam.“ Carola lallte mittlerweile leicht und Mathias grinste.
„Du lallst, meine liebe Caro. Wie wäre es mit einem Kaffee zwischendurch?“
„Ich setze mal einen auf.“ Leni ergriff den Wasserbehälter der Kaffeemaschine und füllte ihn. 
„Bäh… Kaffee“, Carola lachte, „Ok, ok… dann gib mir bitte auch gleich mal die Flasche Wasser rüber, Mathias.“
Leni reckte ihren Kopf aus dem Fenster und sog die frische Luft auf.
„Hat was, so ein Regenguss. Muss ich zugeben. Danach riecht die Kölner Luft nicht mehr ganz so modrig.“ Sie schielte leicht nach hinten zum Tisch, wo sich die zwei gebürtigen linksrheinischen Herrschaften befanden.
„Hömma! Fräulein… du Mainzer Zellhaufen… Ganz dünnes Eis“, grunzte Mathias los und Carola gackerte wie ein Huhn. Ihre Art zu lachen war unbeschreiblich ansteckend. Da half nichts mehr. Da lachte einfach jeder los. 
Die Stimmung war wieder auf normalem Niveau angelangt und erlaubte es, auch andere Themen anzuschneiden.
Mainz und Köln können eben doch manchmal miteinander. 

In der kleinen Altbausiedlung im Kölner Vorort Bickendorf öffnete Sven Lörcher die Wohnungstüre. Leise ging er hinein. Er zog sich um und ging in die Küche. So, wie er es jeden Tag tat.
Er hatte nach der Arbeit Suppenfleisch und Gemüse eingekauft und würde daraus eine frische Suppe machen, so wie seine Mutter das früher immer für ihn gemacht hat. Das würde zwar einige Zeit in Anspruch nehmen, aber die hatte er ja. Freunde hatte er nicht. Viele Menschen hielten ihn für eingebildet. Das war er nicht. Er selber fand sich sowieso völlig normal. Der Arzt hatte damals seiner Mutter erklärt, was eine soziale Phobie sei und dass man damit durchaus gut leben könne. Das tat er und jetzt war er sogar befördert worden. Er hatte sich natürlich darüber gefreut, auch wenn man es ihm nicht ansah. Besonders freute es ihn, dass er es war und nicht diese blöde Ziege, die mit ihrem Minirock und den Highheels reihenweise den Männern den Kopf verdrehte. Diese Schnäpfe. Er fand sie einfach viel zu alt, für so eine Kleidung. Das schickte sich wirklich überhaupt nicht. Wahrscheinlich hatte sie deshalb auch nicht den Job bekommen. Sven Lörchers Mundwinkel zuckte ein wenig. Man konnte beinahe glauben, er lächele. Doch das tat er nie. 
Die Suppe köchelte vor sich. Sven Lörcher saß in der Küche auf seinem Lieblingsstuhl und las ein Fachbuch über Wettbewerbsanalysen. Fachliteratur hatte es ihm angetan. Die verschlang er mühelos.
„Sven? Sven, bist du da?“ Die gebrechliche Stimme seiner Mutter drang dumpf an sein Ohr. Er liebte seine Mutter, doch wenn er las, las er. Sven Lörcher verdrehte die Augen, machte ein Eselsohr in die aktuelle Seite und klappte das Buch widerwillig zu.
„Ja, Mama, ich bin hier.“ Er ging in ihr Zimmer.
„Ich koche uns gerade eine Suppe, so wie du das immer gemacht hast. Wir haben was zu feiern“, sagte er emotionslos, während er ihr hoch half.
„Etwas zu feiern, mein lieber Junge. Ja, was denn? Da bin ich aber gespannt.“
Sven Lörcher Mimik verriet nichts.
„Jetzt machen wir dich erst einmal fertig und dann gehen wir in die Küche, Mama.“

Carola hatte sich vor einigen Minuten in den Ohrensessel geschleppt, in dem meistens niemand saß, obwohl er so bequem war. Leni nippte an ihrem Kaffee und Mathias hatte sich eine Zigarette angezündet und hing halb aus dem Fenster. Es war eher die Ausnahme, dass er rauchte und noch mehr die Ausnahme, dass er es in ihren heiligen Wänden tat.

Die Tür flog auf und Lilo stürzte förmlich hinein.
„Eis. Das taut schon, so ein Mist! Ich hätte es nicht gleich zu Anfang kaufen sollen. Also Mädels, wer will Eis… Malaga, brauche ich jetzt.“
„Mensch, hast du mich verjagt“, Mathias zuckte zusammen und schmiss vor Schreck die Kippe aus dem Fenster.
„Nun hab dich nicht so Prinzesschen!“, lachte Lilo.
„Hey klasse, du kannst ja wieder lachen“, freute sich Leni.
„Wo hast du denn gesteckt? Warst du laufen?“ Carola stand auf und setzte sich zu den anderen an den Tisch.
„Es tut uns leid, Lilo, dass wir vorhin so unsensibel waren. Es war einfach so unvermittelt und für uns völlig unverständlich“, versuchte Mathias die Situation zu erklären. 
„Ich fand das auch ganz schön schräg, wie die beiden hier diskutierten und versuchten dahinter zu kommen, was geschehen sei“, ergänzte Leni. „Magst du mir das auch nochmal erzählen?“
 
Lilo grinste.
„Also, ganz ehrlich? Lieb von euch, aber ich finde, da gibt es nicht viel drüber zu reden. Ich habe es verbockt. Ich denke, ich werde mir eine andere Stelle suchen müssen. Denn… meine Wahrheit dazu ist, die Frau meines Chefs, Dr. Meinhard, hätte einfach nicht herausbekommen dürfen, dass wir eine Affäre haben. Sorry… hatten! Ganz einfach. C´est la vie.“

  
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